30.05.1939

Denkschrift Mussolinis an Hitler (Memoriale Cavallero) (30. V. 1939)

Nachdem nun das Bündnis zwischen Italien und Deutschland festgesetzt ist und dasselbe seine volle Anwendung, zu jeder Zeit, dem Wortlaute und dem Geiste des Vertrages gemäß, finden wird, erachte ich es als zweckmäßig, meine Gedanken über die gegenwärtige Lage und deren wahrscheinliche zukünftige Entwicklungen darzustellen.

I.

Der Krieg zwischen den plutokratischen und deshalb selbstsüchtig konservativen und den stark bevölkerten und armen Nationen ist unvermeidlich. Dieser Sachlage nach muß man sich entsprechend vorbereiten.

II.

Durch die in Böhmen und Albanien erreichten strategischen Stellungen haben die Achsenmächte in ihrer Hand einen grundsätzlichen Faktor des Erfolges.

III.

In einem zur Zeit der Zusammenkunft in Mailand an Herrn v. Ribbentrop gerichteten Memorandum habe ich die Gründe dargelegt, aus welchen Italien eine Vorbereitungsperiode, die sich bis Ende 1942 erstrecken kann, benötigt. Die Gründe sind folgende:

Die zwei europäischen Achsenmächte benötigen eine Friedenszeit von nicht weniger als drei Jahren. Erst vom Jahre 1943 an wird eine kriegerische Anstrengung die größten Aussichten auf Erfolg haben.

Italien braucht diese Friedenszeit aus folgenden Gründen:

a) zur militärischen Organisation Libyens und Albaniens sowie zur Befriedung Äthiopiens, aus welch letzterer Gegend ein Heer von einer halben Million geschaffen werden muß;

b) zur Vollendung der schon in Angriff genommenen Neu- und Umbauarbeiten der sechs Linienschiffe;

c) zur Erneuerung unseres ganzen Artilleriematerials mittleren und größeren Kalibers;

d) zur Weiterentwicklung der autarkischen Pläne, durch welche jeder Blockadeversuch seitens der Demokratien vereitelt werden muß;

e) zur Durchführung der Weltausstellung im Jahre 1942, durch welche nicht nur die zwanzigjährige Tätigkeit des faschistischen Regimes beurkundet, sondern auch Reserven an Valuten beschafft werden können;

f) zur Vollziehung der Heimkehr der Italiener aus Frankreich, was eine sehr ernste militärische und moralische Frage darstellt;

g) zur Vollendung der bereits begonnenen Versetzung vieler Kriegsindustrien aus der Poebene nach Süditalien;

h) zur weiteren Vertiefung der Beziehungen nicht nur zwischen den Regierungen der Achsenmächte, sondern auch zwischen den beiden Völkern. Zu diesem Zwecke wäre eine Entspannung in den Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Nationalsozialismus zweifelsohne nützlich, wie es auch vom Vatikan sehr erwünscht ist.

Aus allen diesen Gründen wünscht das faschistische Italien nicht, einen europäischen Krieg zu beschleunigen, obwohl es von der Unvermeidlichkeit eines solchen Krieges überzeugt ist. Man darf auch annehmen, daß innerhalb drei Jahren Japan seinen Krieg in China zu Ende geführt haben wird.

Es ist weiter vorauszusehen, daß das Dreieck London-Paris-Moskau zu Friedenszeiten alles versuchen wird, um den Achsenmächten besonders auf wirtschaftlichem und moralischem Gebiete Schaden zuzufügen. Auf dem wirtschaftlichen Gebiete wird dadurch erwidert werden, daß man die autarkischen Pläne bis auf das äußerste entwickelt, und auf dem moralischen Gebiete, indem man in jedem Falle zum Gegenangriff schreitet.

IV.

Außer den eigentlichen materiellen Sabotagen wird alles unternommen werden, um den inneren Zusammenhang der Feinde dadurch zu lockern, daß die antisemitischen Bewegungen begünstigt, die pazifistischen Richtungen (Paul Faures Fall in Frankreich) unterstützt, die autonomistischen Bestrebungen (Elsaß, Bretagne, Korsika, Irland) gefördert, die Zersetzung der Sitten beschleunigt und die kolonialen Völkerschaften zum Aufstand gehetzt werden.

Der Einzug des von London an der Hand geführten bolschewistischen Rußlands in die westliche Welt ist zweifelsohne ein zur Entwicklung dieser Pläne günstiger Faktor.

V.

Vom strategischen Standpunkt aus sind die westlichen Mächte als "eingemauert", das heißt durch Landkräfte praktisch als unangreifbar anzusehen. Es ist infolgedessen eine beiderseitige Verteidigungsstellung am Rhein, auf den Alpen und in Libyen vorauszusehen. Umgekehrt können die mutterländischen und kolonialen Kräfte in Äthiopien Angriffsoperationen gegen die angrenzenden französischen und britischen Kolonien einleiten.

Der Krieg im Westen würde somit den Charakter eines vorwiegenden Luft- und Seekampfes annehmen. Durch die Eroberung Albaniens ist das italienische Seeproblem bedeutend erleichtert worden. Die Adria ist zu einem Binnensee geworden, welcher hermetisch geschlossen werden kann.

VI.

Nur gegen Osten und Südosten kann der Krieg einen dynamischen Charakter annehmen. Polen und andere garantierte Staaten werden auf sich selbst angewiesen sein und werden paralysiert werden können, noch ehe eine wirkliche Hilfe, auch aus dem benachbarten Rußland, ihnen geleistet wird.

VII.

Der Krieg, den die großen Demokratien vorbereiten, ist ein Erschöpfungskrieg. Man muß deswegen von der härtesten Voraussetzung ausgehen, welche die hundertprozentige Wahrscheinlichkeit in sich birgt. Die Achse wird von der übrigen Welt nichts mehr bekommen. Diese Annahme wäre schwer, aber die von der Achse erreichten strategischen Stellungen verringern bedeutend die Schwere und die Gefahr eines Erschöpfungskrieges. Zu diesem Zwecke muß man sich, gleich nach den ersten Stunden des Krieges, des ganzen Donau- und Balkanbeckens bemächtigen. Man wird sich mit Neutralitätserklärungen nicht zufriedenstellen dürfen, sondern die Gebiete besetzen und dieselben zur Beschaffung von den erforderlichen Nahrungs- und Industriekriegsvorräten ausnützen müssen. Durch diese blitzartig und mit der schärfsten Entscheidung zu führende Operation würden nicht nur die "Garantierten", wie Griechenland, Rumänien und Türkei, außer Gefecht gestellt werden, sondern man würde sich auch den Rücken sichern. In diesem Spiel können wir - wie im Schachspiele - auf zwei günstige "Bauern" rechnen: Ungarn und Bulgarien.

VIII.

Italien kann eine verhältnismäßig größere Anzahl von Männern als Deutschland mobilisieren. Dieser Fülle von Männern entspricht eine Bescheidenheit von Mitteln. Italien wird also - im Kriegsplane - mehr Leute als Mittel liefern; Deutschland mehr Mittel als Leute.

Ich wünsche zu erfahren, ob die oben angegebenen Betrachtungen vom Führer gutgeheißen werden. Im bejahenden Falle müssen die Pläne der Generalstäbe nach diesen Richtungen vorbereitet werden.

gez. Mussolini

Quelle:

  1. Michael Freund (Hrsg.)
    Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Dokumenten, Bd. 3, S. 333ff
    Freiburg im Breisgau, 1956
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