4.7.1930: Aufruf der Otto-Strasser-Gruppe

"Die Sozialisten verlassen die NSDAP"

Otto Strasser 1957
Otto Strasser 1957

Leser, Parteigenossen, Freunde! Mit tiefer Sorge haben wir seit Monaten die Entwicklung der NSDAP verfolgt und mit steigender Befürchtung bemerken müssen, wie immer häufiger und in immer wichtigeren Fragen die Partei gegen die Idee des Nationalsozialismus verstieß.

In zahlreichen Fragen der Außenpolitik, der Innenpolitik und vor allem der Wirtschaftspolitik nahm die Partei eine Haltung ein, die immer schwerer in Einklang mit den 25 Punkten gebracht werden konnte, in denen wir das alleinige Programm der Partei sahen; schwerer noch wog das Gefühl der zunehmenden Verbürgerlichüng der Partei, einer Voranstellung taktischer Momente über Grundsätze, und die erschreckende Beobachtung einer rasch fortschreitenden Verbonzung des Parteiapparates, der damit immer mehr zum Selbstzweck der Bewegung wurde und seine Interessen höher stellte als die programmatischen Forderungen der Idee.

Wir faßten und fassen den Nationalsozialismus als eine bewußt antiimperialistische Bewegung auf, deren Nationalismus sich beschränkt auf Erhaltung und Sicherstellung des Lebens und des Wachstums der deutschen Nation ohne irgendwelche Herrschaftstendenzen über andere Völker und Länder. Für uns war und ist daher die Ablehnung des vom internationalen Kapitalismus und vom westlerischen Imperialismus betriebenen Interventionskrieges gegen Rußland eine selbstverständliche Forderung, die sich ebenso aus unserer Idee wie aus den Notwendigkeiten einer deutschen Außenpolitik ergibt. Wir empfanden daher die immer offener für den Interventionskrieg eintretende Haltung der Parteileitung als der Idee widersprechend und den Erfordernissen einer deutschen Außenpolitik abträgig.

Für uns war und ist die Zustimmung zum Kampf des indischen Volkes um seine Freiheit von englischer Herrschaft und kapitalistischer Ausbeutung eine Notwendigkeit, die sich ebenso sehr aus der Tatsache ergibt, daß für eine deutsche Befreiungspolitik jede Schwächung einer Vertragsmacht von Versailles günstig ist, wie aus der gefühlsmäßigen Zustimmung zu jedem Kampf, den unterdrückte Völker gegen ausbeutende Usurpatoren führen, da es eine zwingende Folge unserer Idee des Nationalismus ist, daß das Recht der Erfüllung völkischer Eigenart, das wir für uns in Anspruch nehmen, auch allen anderen Völkern und Nationen zusteht, wobei uns der liberalistische Begriff der "Segegnungen der Kultur" unbekannt ist. - Wir empfanden daher die Politik der Parteileitung, die offen für den britischen Imperialismus gegen den Freiheitskampf Indiens Stellung nahm, als ebenso den realen Interessen Deutschlands wie den ideemäßigen Voraussetzungen des Nationalsozialismus widersprechend.

Wir faßten und fassen den Nationalsozialismus seiner ganzen Natur nach als großdeutsche Bewegung auf, deren innerstaatliche Aufgabe nicht zuletzt die Schaffung des völkischen Großdeutschlands ist, unter Ablehnung der aus dynastischen, religösen oder willkürlichen (Eingriffe Napoleons!) Gründen entstandenen Einzelstaaterei, durch die jene einheitliche Zusammenfassung der nationalen Kräfte, wie sie zur Befreiung und Selbstbehauptung Deutschlands notwendig ist, nie zu erzielen ist. - Wir empfanden daher die immer offener zutage tretende Stellungnahme der Parteileitung für das System der Einzelstaaten, deren Rettung und Machterweiterung geradezu als eine Aufgabe des Nationalsozialismus proklamiert wurde, als ebenso schädlich den staatlichen Interessen wie feindlich der Idee großdeutscher Einigung.

Wir faßten und fassen den Nationalsozialismus als eine republikanische Bewegung auf, in der für Erbmonarchie so wenig Platz ist wie für alle anderen Vorrechte, die nicht auf Leistung für die Nation beruhen. Wir sahen und sehen in ihm die revolutionäre Bewegung, die mit einem auf falscher Grundlage beruhenden Obrigkeitsstaat ebenso aufräumt wie mit der formalen Demokratie und in einem organischen Ständestaat germanischer Demokratie ihr staatliches Ziel sieht. - Wir empfanden daher das von der Parteileitung absichtlich beibehaltene republikanisch-monarchistische Halbdunkel als eine Belastung, die übersteigerte Verehrung für den faschistischen Obrigkeitsstaat, wie sie seitens der offiziellen Parteistellen immer stärker hervortritt, geradezu als eine Gefahr für die Bewegung und als Sünde gegen die Idee.

Wir hielten und halten den Nationalsozialismus vor allem aber für die große Antithese des internationalen Kapitalismus, der die vom Marxismus geschändete Idee des Sozialismus als der Gemeinwirtschaft einer Nation zugunsten dieser Nation durchführt und jenes System der Herrschaft des Geldes über die Arbeit bricht, das die Entfaltung der völkischen Seele und die Bildung einer wahren Volksgemeinschaft zwangsläufig verhindert.

Für uns bedeutet Sozialismus Bedarfswirtschaft der Nation unter Anteilnahme der Gesamtheit der Schaffenden an Besitz, Leitung und Gewinn der ganzen Wirtschaft dieser Nation, d. h. also unter Brechung des Besitzmonopols des heutigen kapitalistischen Systems und vor allem unter Brechung des Leitungsmonopols, das heute an den Besitztitel gebunden ist. Wir empfanden daher die im Gegensatz zu den 25 Punkten immer verwaschener werdende Formulierung unseres sozialistischen Wollens, die mehrfachen Abschwächungen, die man an den sozialistischen Forderungen des Programms (z. B. an Punkt 17) vornahm, als ein Vergehen gegen Geist und Programm des Nationalsozialismus, wogegen wir seit Jahren die sozialistischen Forderungen kraftvoll betonten.

Wir empfanden und empfinden den Nationalsozialismus demgemäß seiner ganzen Wesenheit nach als ebensofeindlich dem kapitalistischen Bürgertum wie dem internationalen Marxismus und sehen seine Aufgabe in der Überwindung beider, ausgehend davon, daß im Marxismus das an sich richtige Gefühl des Sozialismus gebunden ist an die falsche Lehre des liberalen Mechanismus und Internationalismus und im Bürgertum das an sich richtige Gefühl des Nationalismus gebunden ist an die falsche Lehre des liberalen Rationalismus und Kapitalismus und beide richtigen und wesenhaften Kräfte in dieser unseligen Verbindung unfruchtbar bleiben müssen für Nation und Geschichte. Wir sahen und sehen daher in unserer Gegnerschaft zu Marxismus und Bürgertum keinen Wesenheitsunterschied, da der in beiden wirkende Liberalismus sie gleichmäßig zu unseren Feinden macht. Wir empfanden daher die immer einseitiger gewordene Kampfparole der Leitung der NSDAP "gegen den Marxismus" als eine Halbheit, und in steigendem Maße erfüllte uns die Befürchtung, daß dahinter eine Sympathie für das Bürgertum steckte, das unter der gleichen Parole seine kapitalistischen Interessen vertritt, mit denen wir nichts gemein hatten und nichts gemein haben.

Verstärkt, unterstrichen und sichtbar gemacht wurden diese Befürchtungen grundsätzlicher Natur durch die Befürchtungen über die taktischen Wege, die die Leitung der NSDAP einschlug.

Von jeher hat es uns mit Bedauern und Mißbehagen erfüllt, daß Adolf Hitler sich zwar häufig mit führenden Kreisen der Unternehmer- und Kapitalistenschaft über die Ziele und Wege des Nationalsozialismus aussprach, aber nie Gelegenheit nahm, mit führenden Kreisen der Arbeiter und Bauern das gleiche zu tun. So empfanden wir das daraus resultierende Gefühl, als ob der Nationalsozialismus jenen Kreisen näher stünde als diesen, als eine schwere Belastung, um so mehr als wir uns sagen mußten, daß die Ehrlichkeit unseres sozialistischen Wollens jede Verständigung mit jenen Kreisen ausschlösse, denen die Wahrung ihrer kapitalistischen Rechte immer noch wichtiger war und ist, als die Durchführung nationaler Ziele, wenn diese Durchführung den Sozialismus zur Voraussetzung hat.

Aus dem gleichen Grunde sahen wir mit steigender Sorge die enge Verbindung der Führung mit Hugenberg und der Deutschnationalen Volkspartei, zum Teil auch mit dem Stahlhelm und den sogenannten Vaterländischen, weil alle diese Umstände - auch wenn sie wie beim Volksbegehren taktisch von Fall zu Fall vertretbar sein mochten - doch geeignet schienen, eine falsche Vorstellung von unserem Wesen zu geben.

Als Fundamentalsatz aus dem revolutionären Charakter des Nationalsozialismus stand und steht für uns die Ablehnung jeder wie immer gearteten Kompromiß- und Koalitionspolitik fest, da jede Koalition immer nur der Aufrechterhaltung des bestehenden Systems dient, als des Systems der nationalen Unfreiheit und der kapitalistischen Ausbeutung. Es erscheint uns nach dem Wesen des Nationalsozialismus und nach seiner Aufgabe: Durchführung der deutschen Revolution, einfach unmöglich, die Parole "Hinein in den Staataufzustellen, die wir noch vor zwei Jahren beim Stahlhelm mit der ganzen Heftigkeit des revolutionären Wollens bekämpft hatten.

Der Entschluß der Parteileitung, in Thüringen eine Koalitionsregierung mit den bürgerlichen Parteien zu bilden, hat in uns daher am stärksten den Glauben erschüttert, daß unsere Auffassung vom Wesen und von der Aufgabe des Nationalsozialismus, wie sie zweifellos im Programm und in der bisherigen Agitation der Partei zum Ausdruck kamen, noch aufrechtzuerhalten sei. Unsere damaligen Vorhaltungen wurden seitens der Leitung unbeantwortet gelassen. Damit war die NSDAP in der gleichen Lage wie die SPD nach 1918, als sie sich entschloß, mit den Feinden ihres wirtschaftspolitischen Wollens zusammenzugehen und damit zwangsläufig ihre politischen Ziele verriet. Mit unerbittlicher Konsequenz vollzog sich bei der NSDAP die gleiche Linie des Verrats ihrer Grundsätze, wie er sich in der Bewilligung der Kopfsteuer, der Erhöhung der Mieten usw. in Thüringen darstellt.

Der Einwand, daß die Gefahr staatlicher Verfolgung solche Opfer der überzeugung notwendig mache, ist nicht nur unrichtig - wie das Verbot in Bayern und Preußen zeigt -, sondern höhlt vor allem den Mut und den Charakter der Bewegung aus, da mit diesem Argument der Feigheit jeglicher Verrat gedeckt werden kann. Während für uns alle Taktik ihr Ende an den Grundsätzen findet, hat die Parteileitung aus "taktischen" Erwägungen immer häufiger und in immer entscheidenderen Fragen die Grundsätze des Nationalsozialismus verlassen.

Hand in Hand mit der Verbürgerlichung der Bewegung ging eine Verbonzung der Partei, die geradezu erschreckende Formen annahm. Nicht nur die sogenannten höheren SA-Führer, sondern in steigendem Maße auch die politischen Funktionäre der Partei entwickelten sich nach ihrer Haltung und ihrer Lebensführung in einer Weise, die ebenso mit den inneren Gesetzen einer revolutionären Bewegung, wie mit den Forderungen eines sauberen Charakters in Widerspruch standen. - Die im Laufe der Zeit fast allgemein gewordene direkte und indirekte materielle Abhängigkeit fast aller Funktionäre von der Partei und ihrem Führer, ließ jene Atmosphäre byzantinischer Würdelosigkeit entstehen, die die Vertretung jeder unabhängigen Meinung unmöglich machte und zu jener ideellen und materiellen Korrumpierung führen mußte, die jeder einzelne Parteigenosse mit steigender Erbitterung sah, ohne bei dem ganzen Aufbau der Partei Abhilfe schaffen zu können. Die zahlreichen Fehlgriffe bei der Erledigung persönlicher Streitigkeiten innerhalb der Partei haben hier ihre tiefste und eigentliche Ursache.

Diese Entwicklung, die wir hier auf grundsätzlichem, taktischem und organisatorischem Gebiet mit steigender Sorge beobachten, hat uns zu jeder Stunde, der vergangenen Jahre als erste, tiefe und unnachsichtige Mahner und Gegner gesehen. Die fünf Jahrgänge der "Nationalsozialistischen Briefe" geben hierfür ebenso Zeugnis, wie die rednerische und persönliche Haltung, die wir ungeachtet des Druckes und der Lockung von oben eingenommen haben. In keiner Stunde haben wir aus opportunistischen Gründen eine Änderung unserer Haltung in Rücksicht gezogen, und oft genug standen wir vor der Frage, ob wir angesichts besonderer schwerer Verstöße der Parteileitung gegen das Wesen des Nationalsozialismus nicht in aller Öffentlichkeit Stellung nehmen mußten.

Wenn wir das bis heute nicht getan haben, so deshalb, weil die Parteileitung offen die 25 Punkte nicht verleugnet hat und weil wir hofften, daß der revolutionäre Geist wie er in den Massen der SA und vor allem der Jugend lebendig ist, siegen würde über die Verspießerung einer verbonzten Leitung.

Diese unsere Hoffnung wurde nunmehr durch den Willensakt der Parteileitung unmöglich gemacht.

Durch einen Brief Adolf Hitlers vom 30. Juni wurde der Berliner Gauleiter der NSDAP aufgefordert, eine "rücksichtslose Säuberung" der Partei von allen "SalonBolschewisten" durchzuführen.

Im Zusammenhang mit dieser Aufforderung wurde gegen die als sozialistisch-revolutionär bekannten unterzeichneten Parteigenossen der Ausschluß angedroht bzw. verfügt.

Damit war die Trennung der NSDAP von der Zielen und Forderungen der deutschen Revolution und den sozialistischen Punkten des Programms seitens der Parteileitung offen ausgesprochen.

Als aufrechte, unbeugsame Bekenner des Nationalsozialismus, als glühende Kämpfer der deutschen Revolution lehnen wir jede Verfälschung des revolutionären Charakters, des sozialistischen Wollens und der nationalistischen Grundsätze des Nationalsozialismus ab und werden nunmehr außerhalb der ministeriell gewordenen NSDAP das bleiben, was wir immer waren.

Revolutionäre Nationalsozialisten
Otto Strasser

Buchrucker,
Kurt Brandt,
Sektion Neukölln,
Paul Brinkmann,
Ortsgruppe Lehnitz,
Bernhard Eger,
Sektion Friedenau,
Paul Gallus,
Sektion Lichterfelde-Lankwitz,
F. Gaudek,
Ortsgruppe Brieselang,
Grieksch-Franke,
Ortsgruppe Potsdam,
Friedrich Herrmann,
Sektion Wilmersdorf,
Albert Jacubeit,
Straßen-Zellen-Leiter
Sektion Friedenau,
Kaumm,
Sektion Neukölln,
Willern Korn,
Leiter der nationalsoz.
Führerschulen Brandenburg
Günther Kübler,
Gau Brandenburg,
Herbert Blank,
Rudolf Manske,
Sektion Neukölln,
E. Mossakowsky,
Schriftleiter d. Nat. Soz.
Pressekonferenz,
Alfred Raeschke,
Sektionsleiter, Sektion Neukölln,
Rudolf Raeschke,
Sektion Neukölln,
Friedrich Reich,
Straßen-Zellen-Leiter
Sektion Friedenau,
Richard Schake,
früher Hitler-Jugend-Führer,
Gau Mecklenburg-Lübeck,
Ewald Stephan,
Ortsgruppe Brieselang,
Karl Vogt,
Sektion Britz,
Horst Wauer,
Sektion Friedenau,
Wettering,
Alfred Wildies,
Sektion Neukölln,
G. Zawacki,
Sektion Pankow.

Quelle:

  1. Der Nationale Sozialist vom 4. Juli 1930
    zitiert nach Reinhard Kühnl
    Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, S. 122ff

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