"Studie Grün"

Entwurf einer strategischen Weisung des Generalstabs

(Herausgegeben am 18.06.1938, ergänzt am 07.07.1938)

Berlin, den 18. Juni 1938

1. Die Gefahr eines Präventivkrieges fremder Staaten gegen Deutschland besteht nicht.

Eine automatisch wirkende militärische Bündnispflicht, die Deutschland zwangsläufig in einen kriegerischen Konflikt fremder Mächte hineinziehen würde, hat Deutschland nicht übernommen.

Als Nahziel steht die Lösung der tschechischen Frage aus eigenem freiem Entschluß im Vordergrund meiner politischen Absichten. Ich bin entschlossen, ab 1.10.38 jede günstige politische Gelegenheit zur Verwirklichung dieses Zieles auszunutzen.

Dadurch können Freunde, Interessenten und Feinde auf den Plan gerufen werden und andere Mächte teilnahmslos bleiben, ohne daß sie vorher mit absoluter Sicherheit in eine dieser Kategorien einzureihen sind.

Ich werde mich aber zur Aktion gegen die Tschechei nur entschließen, wenn ich, wie bei der Besetzung der entmilitarisierten Zone und beim Einmarsch in Österreich, der festen Überzeugung bin, daß Frankreich nicht marschiert und damit auch England nicht eingreift.

[Der zweite Abschnitt behandelt die miltärischen Maßnahmen, hier weggelassen]

3. Wird mitten im Frieden deutsches Hoheitsgebiet plötzlich überraschend und in feindlicher Absicht durch eine fremde Macht verletzt, so wird o h n e b e s o n d e r e n B e f e h l mit Waffengewalt Widerstand geleistet.

Die Wehrmachtsteile haben deshalb ihre zuständigen Befehlshaber an der Grenze oder an der Küste zu ermächtigen, in einem solchen Fall alle für die Abwehr des feindlichen Angriffs notwendigen Maßnahmen selbständig zu treffen.

Keineswegs darf jedoch in einem solchen Fall unsererseits die deutsche Reichsgrenze ohne meinen Befehl überschritten oder überflogen oder fremdes Hoheitsgebiet verletzt werden.

Eine Verletzung deutschen Hoheitsgebietes (s. 1. Satz dieser Ziffer) liegt nicht vor, wenn es sich um eine zufällige, unbeabsichtigte oder durch Übereifer eines Unterführers entstandene Grenzüberschreitung durch einzelne Posten und Streifen oder ein durch falsche Navigation entstandenes Überfliegen oder Befahren deutschen Hoheitsgebietes durch Kriegsfahrzeuge in offensichtlich nicht feindlicher Absicht handelt.

4. Diese Weisung bezieht sich auf die einheitliche Vorbereitung auf den Krieg und auf die allgemeinen strategischen Gesichtspunkte, die für die Kriegseröffnung gelten. Sie wird nach Bedarf zu den einzelnen Aufmärschen durch Bestimmungen auf Sonder-, Verwaltungs- und wehrwirtschaftlichen Gebieten ergänzt werden.

Die notwendigen Weisungen für die Führung des Krieges selbst werde ich von Fall zu Fall geben.

Z(eitzler) K(eitel)


Weisung vom 18. Juni

Zweifrontenkrieg mit Schwerpunkt (Fall "Rot")

Da auch ein durch die Weststaaten gegen uns begonnener Krieg angesichts der heutigen Lage mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei beginnen muß, steht die a u f m a r s c h m ä ß i g e Bearbeitung eines Krieges mit Schwerpunkt des Heeres und der Luftwaffe gegen Westen nicht mehr im Vordergrund.

Die bisher für den Fall ("Rot") getroffenen Vorbereitungen bleiben jedoch bestehen. Sie tragen beim Heer zur Tarnung und Verschleierung des anderen Aufmarsches bei und dienen bei der Luftwaffe als Vorbereitung für eine unter Umständen schnell notwendig werdende Verlegung des Schwerpunktes vom Osten nach dem Westen sowie der Vorarbeit für zukünftige Kriegsmöglichkeiten im Westen.


Berlin, den 7. Juli 1938

Im Zusammenhang mit "Grün"

Wie sich die politische Lage während der Durchführung oder nach Beendigung von "Grün" gestalten wird, läßt sich nicht voraussagen.

Es erscheint jedoch zweckmäßig, wenigstens theoretische Überlegungen und Berechnungen für einige mögliche Fälle anzustellen, um gedanklich nicht unvorbereitet zu sein.

Diese Überlegungen hätten sich darauf zu erstrecken, was

a) zu geschehen hätte, wenn während der Durchführung von "Grün" entgegen unserer Annahme - doch andere Staaten gegen uns eingreifen,

b) was nach Beendigung von "Grün" geschehen soll.

Zu a) Wenn bei der Durchführung von "Grün" Frankreich gegen uns eingreift, treten die im Fall "Grün" vorgesehenen Maßnahmen in Kraft. Es kommt hierbei zunächst darauf an, die Westbefestigungen zu halten, bis die Durchführung der Aktion "Grün" Freimachen von Kräften zuläßt.

Sollte Frankreich hierbei durch England unterstützt werden, so wird sich dies auf den Landkrieg zunächst weniger auswirken. Sache der Luftwaffe, der Kriegsmarine und des OKW (Wehrwirtschaftsstab, Abwehr, WNV) ist es jedoch, für ihren Bereich vorausschauende Überlegungen anzustellen.

Von den Ostmächten könnte in erster Linie ein Eingreifen Rußlands in Frage kommen. Dieses wird wohl anfangs nur in einem Verstärken der tschechischen Luftwaffe und Rüstung bestehen. Nicht unüberlegt darf bleiben, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn Rußland es zu einem eigenen See- und Luftkrieg gegen uns kommen läßt oder sogar über die Randstaaten in Ostpreußen eindringen will.

Bei einem Eingreifen Polens gegen uns müssen wir die Ostbefestigungen und Ostpreußen so lange durch Grenzwacht und sonstige Formationen halten, bis der Abschluß der Aktion "Grün" uns wieder Bewegungsfreiheit gibt.

Siehe auch:

Quelle:

  1. Michael Freund
    Weltgeschichte der Gegenwart in Dokumenten (1), S. 65ff
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